17. Mai 2024
Kreischt die Kettensäge, ist es zu spät zum Diskutieren. Deshalb, zur Abrundung des Themas «Wenn der Nachbar das Fällen des Baumes verlangt», die Beurteilung durch einen Rechtsanwalt.
Das Nachbarrecht kann Emotionen schüren und Konflikte entstehen lassen, die das nachbarliche Zusammenleben stark belasten können. Geht es um Pflanzen und Bäume im Grenzbereich, kommen häufig ökologische Überzeugungen dazu, welche die Gefühle zusätzlich in Wallung bringen, vor allem dann, wenn es um gross gewordene alte Bäume geht, an die sich die Eigentümerschaft gewöhnt hat und die ihr lieb geworden sind, die aber gerade wegen ihrer Grösse der Nachbarschaft nachteilig sein können und ihr deshalb zunehmend missfallen. Es ist denn auch bezeichnend, dass der 2006 im casanostra Nr. 82 publizierte und jüngst in Nr. 172 abgedruckte Bericht über einen konkreten St. Galler Fall betreffend eine Tanne im Grenzbereich sehr grosses Interesse und grosse Beachtung gefunden hat.
In Nr. 173 des casanostra hat daraufhin eine Gartenfachfrau zu Recht darauf hingewiesen, dass das Pflanzenrecht nach Art. 688 ZGB kantonales Recht darstellt, das deshalb von Kanton zu Kanton variiert; andere Kantone hätten eine «baumfreundlichere» Gesetzgebung, man solle also nicht vorschnell Bäume fällen, denn diese hätten gerade auch im Siedlungsraum wichtige Funktionen.
Dass im Kanton Zürich für den Grenzabstand verletzende Bäume nach einem Bestand von fünf Jahren und mehr kein Anspruch der Nachbarschaft auf Beseitigung beziehungsweise Fällung mehr besteht, ist allerdings nicht eine Frage des «Gewohnheitsrechts», vielmehr «verjährt» der Beseitigungsanspruch nach fünf Jahren. Diese rechtliche Unterscheidung ist für den geneigten Leser, die geneigte Leserin allerdings wenig bedeutungsvoll.
Bundesgericht: Mindestschutz für die Nachbarschaft
In diesem Zusammenhang ist der Vollständigkeit halber zu ergänzen, dass das Pflanzenrecht nicht rein kantonales Recht darstellt. Vielmehr vermittelt das eidgenössische Zivilgesetzbuch dem in seinen Interessen beeinträchtigten Nachbarn einen Mindestschutz, wenn das kantonale Recht ihm gegen übermässige Nachteile wegen der Bäume der Nachbarn keinen Rechtsschutz gewährt. Bereits im Jahr 2000 hat das Bundesgericht erkannt, dass auch sogenannte negative Immissionen (z.B. Entzug von Licht oder Aussicht), wenn sie übermässig sind, nicht geduldet werden müssen, auch dann nicht, wenn sie von Pflanzen oder Bäumen auf dem Nachbargrundstück ausgehen (BGE 126 III 452). lm Jahr 2012 wurde, diesem Bundesgerichtsurteil folgend, Art. 684 Abs. 2 ZGB in dem Sinne ergänzt, dass übermässiger Entzug von Besonnung oder Tageslicht nachbarrechtlich nicht erlaubt ist.
Es ist allerdings festzuhalten, dass Bäume, welche den am Ort geltenden kantonalrechtlichen Grenzabstand einhalten, kaum je übermässige Auswirkungen auf die Nachbarschaft haben dürften. Das ZGB (Art. 684 und 679) gewährt also vor allem in denjenigen Kantonen in extremen Fällen einen Mindestanspruch, wo die Bäume den Grenzabstand nicht einhalten, dieser aber infolge Verjährung nicht durchgesetzt werden kann, wie eben beispielsweise im Kanton Zürich.
Letztlich ist dem pflanzenden Grundeigentümer zu empfehlen, sich über die in seinem Kanton geltenden Vorschriften zu erkundigen und diese einzuhalten. Und dem Nachbarn ist zu raten, dass er so bald als möglich das Gespräch mit dem pflanzenden Nachbarn sucht, wenn er eine Verletzung des Grenzabstandes feststellt und er längerfristig erhebliche Einschränkungen vom wachsenden Baum befürchtet.
lic. iur. Armin Linder, Rechtsanwalt & Notar, rtwp rechtsanwälte & notare, Rosenbergstrasse 42b, 9000 St. Gallen