14. August 2020
Immer mehr Ehe- und Konkubinatspaare in der Schweiz trennen sich nach einem Verfahren, das auf Kooperation beruht. Der Anwalt Stephan Thurnherr hilft Betroffenen, möglichst einvernehmlich – und kostengünstig – auseinanderzugehen.
(Interview mit Dr. iur. Stephan Thurnherr, RTWP Rechtsanwälte & Notare; erschienen in der Printausgabe Migros-Magazin vom 10. August 2020, Seiten 48ff.)
Stephan Thurnherr, wie sind Sie auf das sogenannte kooperative Anwaltsverfahren, kurz: CLP, aufmerksam geworden?
Als meine damalige Frau und ich uns vor neun Jahren scheiden lassen wollten, hörten wir im Bekanntenkreis erstmals von CLP. Wir haben uns dann für dieses Verfahren entschieden und waren beeindruckt, wie entspannt alles ablief. Eine der Folgen ist, dass wir noch heute ein gutes Einvernehmen haben.
Warum befürworten Sie CLP?
Als Anwalt weiss ich, wie gross Leid und Elend bei strittigen Trennungen sind, die letztlich das Gericht entscheiden muss. Das kostet auch viel Zeit und Geld. Im Vergleich dazu ist CLP sicher einer der meistversprechenden Wege, ressourcenschonend zu einem guten Ergebnis zu kommen. Als beteiligter Anwalt finde ich es äusserst befriedigend, eine Scheidung zu begleiten, in der es durchaus zu Auseinandersetzungen, aber nicht zu Hasstiraden und giftigen Streitereien kommt. CLP ist übrigens auch bei Trennungen von nicht verheirateten Paaren anwendbar.
Wie fördert das neue Konzept positive Debatten?
Bei einem CLPVerfahren haben die Parteien je einen Anwalt, der sie bei allen Fragen juristischer, finanzieller und familiärer Art berät. CLPAnwälte legen aber grossen Wert darauf, auch die emotionalen und psychischen Bedürfnisse ihrer Mandanten zu kennen, um ihr Verhalten während des Verfahrens besser deuten zu können; sie streben nicht in erster Linie danach, das materielle Maximum für sie herauszuholen und sich gegen den Anwalt der Gegenpartei in Stellung zu bringen. Wir sprechen auch nicht von Gegen, sondern von Mitanwälten. Kooperation im Interesse der Mandanten steht eindeutig im Vordergrund.
Geraten sich CLP-Anwälte nie in die Haare?
Nein. Das ist ein zentraler Anspruch, den wir hochhalten. Zwischen uns besteht eine grosse Kollegialität, die sich auch daran zeigt, dass wir in lokalen Pools organisiert sind. Etwa alle acht Wochen treffen wir St. Galler CLPAnwälte uns beispielsweise zum Lunch, um die persönlichen Kontakte auch unter dem Jahr zu pflegen. Dabei diskutieren wir transparent, aber natürlich anonym Besonderheiten laufender Fälle. Wenn ich mit einem Kollegen im selben Fall engagiert bin – er für die Frau, ich für den Mann –, tauschen wir uns offen aus. Ich weiss, dass der andere mein Vertrauen nicht missbraucht.
Wie kommen Sie zum Beispiel an eine Mandantin heran, die bei aller Bereitschaft zur Kooperation in eine emotionale Sackgasse geraten ist? Eine Scheidung ist doch – CLP hin oder her – immer eine aufwühlende Erfahrung.
Absolut, das möchte ich keineswegs verharmlosen. Umso wichtiger ist es, dass ich über Gesprächstechniken verfüge, mit denen ich die Blockade der Frau lösen kann. Da kommt es darauf an, die Konfliktdynamik zu verstehen und die richtigen Fragen zu stellen. Als CLPAnwälte orientieren wir uns stark an Methoden aus der Mediation oder auch am sogenannten HarvardVerhandlungsprinzip, das nach dem Motto verfährt: «Getting to Yes!» Auch bei dieser Technik stehen ja die richtigen Fragen im Mittelpunkt.
Bekannt ist das Beispiel der Marktfrau, die noch einen letzten Kürbis zu verkaufen hat, als zwei Frauen heraneilen und gleichzeitig schreien: «Den will ich!» Die Marktfrau fragt entspannt: «Warum denn?» Die eine Frau sagt: «Ich will eine Suppe kochen.» Die andere antwortet: «Ich will mit meinen Kindern eine Halloween-Maske schnitzen.» Und siehe da, Problem gelöst: Die eine bekommt die Hülle, die andere das Fruchtfleisch.
Eine kleine, aber wunderbar kluge Frage: Warum? Wenn man ein streitendes Paar auf einen solchen Gedankengang lotst, heisst es schnell: «Gute Idee.» Da lenkt vielleicht der Mann plötzlich ein und sagt: «Stimmt. Warum soll ich noch länger ums Auto streiten? Meine Frau braucht es viel dringender, weil sie ständig die Kinder herumkutschiert. Und ich fahre sowieso lieber Töff.»
Wie unterscheidet sich das kooperative Verfahren von einer Mediation, die ja auch eine Methode ist, um Trennungen einvernehmlicher über die Bühne zu bringen?
CLPAnwälte verfügen auch über eine Ausbildung in Mediation oder in ähnlichen lösungsorientierten Kommunikationspraktiken. Ein Mediator begleitet ein Paar aber als überparteilicher Vermittler, ohne ihm ausdrücklich Ratschläge zu erteilen. Ich hingegen bin als CLPAnwalt eindeutig parteiisch und berate meinen Mandanten oder meine Mandantin explizit – nicht zuletzt in juristischen Belangen, was ja meine Kernkompetenz ist. Tauchen in einer Mediation schwierige juristische Fragen auf, stösst ein Mediator oder eine Mediatorin schnell einmal an die Grenze seiner respektive ihrer Möglichkeiten und schickt die Mandanten dann nicht selten zu uns.
Was tun Sie, wenn alte Beziehungsprobleme das Verfahren überlagern und eine Lösung behindern? Psychologe sind Sie ja nicht.
In einer solchen Situation ziehen wir oft einen speziell geschulten Paarcoach bei, den wir – mit Zustimmung beider Parteien – über die Probleme informieren und der dann mit den beiden ein, zwei separate Sitzungen abhält. Diese Fachperson, die ebenfalls die CLPBasisausbildung absolviert hat, knüpft an einem anderen Punkt an, fern aller juristischen Fragen. Oft kann sie den Knopf lösen, und wir kommen einen grossen Schritt vorwärts.
Wie sorgen Sie dafür, dass das Wohl der Kinder im Verfahren berücksichtigt wird?
Das ist uns ganz wichtig; diese Frage kommt sehr früh aufs Tapet. Erste Sitzung, alle Beteiligten am Tisch, wir nehmen die anstehenden Probleme, gestaffelt nach Dringlichkeit, auf und fragen: Was muss zuerst gelöst werden? Das Wohl der Kinder ist ein Thema, das sofort auftaucht. Sehr viele Eltern sagen, es sei ihnen ganz wichtig, dass auch die Bedürfnisse der Kinder wahrgenommen und befriedigt werden. Dann frage ich gern, ob die Kinder wohl eine eigene Ansprechperson brauchen, einen Menschen ihres Vertrauens, mit dem sie frei von der Leber weg reden können, ohne Angst vor Sanktionen. Viele Väter und Mütter sagen sofort Ja, weil sie daran interessiert sind, dass ein objektiver Blick von aussen auf ihre familiäre Situation fällt.
Wie läuft das konkret ab?
Wir arbeiten zu diesem Zweck mit sogenannten Kindercoaches zusammen, die Knaben und Mädchen nicht nur emotional unterstützen, sondern beispielsweise auch für eine gute Regelung des Besuchsrechts sorgen.
Kindercoach, Paarcoach, zwei Anwälte – das geht ins Geld. Ist ein solches Verfahren nur etwas für Reiche?
Wer mit einer strittigen Scheidung vor Gericht geht, landet je nach Streitwert, etwa bei einem Haus oder Unternehmen, schnell einmal bei 30 000 Franken Gerichtsgebühren – ohne Anwaltskosten. Ein CLPVerfahren, das im Normalfall ja in eine Scheidungskonvention mündet, erfordert vom Richter einen relativ geringen Aufwand und kommt im Durchschnitt auf höchstens 2000 Franken Gerichtsgebühr zu stehen.
Dennoch möchten Sie dabei ja auch etwas verdienen.
Natürlich haben wir Anwälte unseren Preis. Das Bundesgericht hat kürzlich in einem Entscheid festgehalten, dass das übliche Anwaltshonorar auf dem Platz St. Gallen 300 bis 400 Franken pro Stunde beträgt. Wenn wir also von 30 Stunden pro Fall ausgehen, macht das mindestens 9000 Franken pro Anwalt – für beide zusammen also gegen 20 000 Franken.
Eine Scheidung ist demnach so oder so ziemlich teuer.
Das ist so. Darum fragen wir Mandanten, die sich stark in Beziehungskonflikte verstricken, regelmässig, ob es sich für sie wirklich lohne, wieder und wieder in alten Wunden herumzustochern und noch mehr Geld, Zeit und Energie für Sitzungen aufzuwenden. Erstaunlich viele reagieren dann pragmatisch und sagen: «Hm, stimmt, das bringt es wirklich nicht.»
Das erfordert ein gehöriges Mass an Souveränität, worüber wohl nicht alle Paare verfügen.
Als CLPAnwalt bin ich ja schon froh, wenn ein Paar über den kleinen, aber entscheidenden gemeinsamen Nenner verfügt: Auseinandersetzung ja, Krieg nein. Mit diesem Minimum an Übereinstimmung eine Lösung zu erarbeiten, ist dann die Herausforderung für mich.
Tatsächlich eine dünne Basis, auf der Sie aufbauen.
Gut, ein ganz wichtiger Punkt in unserer Arbeit ist die Abklärung im Vorfeld. Wir versuchen herauszufinden, ob die Beteiligten überhaupt zur Kooperation fähig sind.
Und wie finden Sie das heraus?
Wir erklären unseren Mandanten zunächst einmal das Verfahren. Oft merken wir bereits zu diesem Zeitpunkt, ob bei einer Partei nur rational ein Wunsch nach einem schnellen Problemlösungsverfahren besteht, während sie emotional noch so heissläuft, dass sie weder zu Kompromissen bereit ist noch wichtige Informationen auf den Tisch legen will; ob es also ausschliesslich darum geht, ihre Interessen einseitig durchzusetzen. Da sind wir CLPAnwälte jedoch die falsche Adresse. Alle Beteiligten müssen im Vorfeld Verhandlungsregeln unterschreiben, und die verlangen Fairness, Transparenz, Respekt, das gegenseitige Wahren der Persönlichkeits und Privatsphäre und Ehrlichkeit.
Ist bei Ihnen schon einmal ein CLP-Verfahren gescheitert?
Ja, das ist mir bisher zweimal passiert. In beiden Fällen war die Ausgangslage so kompliziert, ging es um so viel Geld, dass einer der Beteiligten irgendwann sagte, dass er keinem Kompromiss zustimmen könne, sondern auf das Urteil eines Richters poche.
Welche Paare müssen von Anfang an vor Gericht?
Diejenigen, die über alles streiten und nicht bereit oder fähig sind, auf kooperative Art auseinanderzugehen.
Das klingt nach Krieg.
Rosenkrieg! Dann bitte vor Gericht.
Wann reicht eine Mediation?
Wenn einfache juristische Verhältnisse bestehen, beide Parteien ihre Interessen selber vertreten können und keine Riesenvermögen vorliegen. Dann kann eine Mediation relativ schnell und günstig eine Lösung, sprich: eine Scheidungskonvention, herbeiführen.
Und wo siedeln Sie das CLP-Verfahren an?
Irgendwo dazwischen. Nehmen Sie eine binationale Ehe, in der sich die Frage stellt, welches Recht angewendet werden soll. Da braucht es mehr juristisches Knowhow, als eine Mediation bieten kann. Oder stellen Sie sich ein Paar vor, bei dem der Mann jahrelang den Haushalt besorgt und die Kinder betreut hat, während die Frau erwerbstätig war: Bei einer Scheidung ist nicht nur juristisches Spezialwissen gefragt, sondern auch menschliches Verständnis für diese doch immer noch spezielle Lebensform – ein klassischer Fall für CLP.
Experten für kooperative Trennung
CLP steht für «Collaborative Law and Practice». Stephan Thurnherr ist Präsident von clp Schweiz. Der Verein wurde 2003 gegründet und bildet den Schweizer Dachverband der Berufsorganisationen, deren Mitglieder CLP praktizieren. CLPAnwälte müssen über fünf Jahre Berufserfahrung und eine Zusatzausbildung als Mediator oder Vergleichbares verfügen. Zudem müssen sie regelmässig Weiterbildungskurse besuchen, die über den juristischen Bereich hinausgehen und sich mit Gesprächsführung, Konfliktlösung und Ähnlichem befassen. Die Nachfrage wie auch die Zahl der CLPAnwälte ist ansteigend. Mittlerweile gibt es in der Schweiz rund 150 Personen – Anwälte und Paarcoaches –, die nach dem CLPKonzept arbeiten.