6. Februar 2018
Auflösung – einer Ehe, eines Betriebs, einer Praxis, einer Gesellschaft: Strittig und vergangenheitsorientiert oder einvernehmlich und zukunftsgerichtet?
Ein Plädoyer für Collaborative Law and Practice
Die Auflösung einer Beziehung, sei es unter Ehegatten oder Geschäftspartnern, wird häufig erschwert durch die persönlichen Konflikte, die am Ursprung der Trennung stehen. Sie behindern eine sachliche Auseinandersetzung mit den hängigen Problemen. Leidtragende sind die Beteiligten selber und direkt oder indirekt die von einem Streit Betroffenen wie Kinder, Familie, Freunde, Arbeitnehmer usw. Können sich die Beteiligten nicht zusammenraufen, braucht es eine autoritative Entscheidung; der Gang zum Gericht ist vorgespurt. Die Nachteile sind jedoch gross, oft geradezu dramatisch:
Prozessieren vor Gericht
Man gibt zum einen das Heft völlig aus der Hand und entscheidet nicht mehr selber, sondern überlässt dies einem Dritten, dem Richter, der Richterin, was zu überraschenden Ergebnissen führen kann. Zum anderen sind Zivilprozesse heikel: Solche mit gesellschafts- oder obligationenrechtlichem Hintergrund, ebenso güterrechtliche Auseinandersetzungen im Fall einer Scheidung, haben enge zeitliche und beweismässige Schranken. Sie führen oft zu Ergebnissen, denen nicht der ganze relevante Sachverhalt zugrundeliegt. Die Anforderungen an die Substantiierung des eigenen Standpunkts sind mit der Einführung der schweizerischen Zivilprozessordnung vor einigen Jahren erheblich gestiegen und führen häufig dazu, dass berechtigte Ansprüche nicht geschützt werden. Dazu kommen – im Kanton St. Gallen schlimmer als etwa in Zürich – die Prozesskosten: Während man früher unter der kantonalen Prozessordnung bei der Einschreibung einer Klage eine Gebühr in dreistelliger Höhe zu zahlen hatte, muss man heute tief in die Tasche greifen, nur damit sich das Gericht überhaupt mit der Sache befasst. Als Beispiel: Von einem Unternehmer, der seinen Werklohn von rund CHF 600‘000.- einklagte, verlangte das st. gallische Handelsgericht einen Kostenvorschuss von nicht weniger als CHF 50‘000.-! Wäre es nicht zu einem Vergleich mit der Bauherrin gekommen und beispielsweise eine Expertise notwendig geworden, hätten weitere Vorschüsse in fünfstelliger Höhe geleistet werden müssen. Wer kann sich heute einen Prozess überhaupt noch leisten? Die Klage ist nicht neu, aber die Antwort kennt man: nur sehr wohlhabende oder finanziell schwache Personen, letztere dank unentgeltlicher Rechtspflege. Der Mittelstand, ob unterer oder oberer ist egal, trägt ein grosses Risiko, wegen Gerichts-, Expertise und Anwaltskosten finanziell zu stranden.
Prozessieren in Ehesachen im Besonderen
In Ehesachen wird einem das Prozessieren aus anderen Gründen nicht schmackhaft gemacht: Im gesellschaftlichen und vertraglichen Bereich (ausgenommen AG und GmbH) bestehen seit der Einführung von ZGB und OR weitgehend unveränderte Vorschriften und kommen Gesetzesrevisionen selten vor; hingegen kann es im Familienrecht mit Änderungen nicht rasch genug gehen und hält die Qualität der neuen Regelungen mit der Geschwindigkeit ihrer Einführung nicht Schritt. Überhaupt nicht optimal umgesetzt wird das gesellschaftliche Anliegen, den Unterhalt für die Betreuung der minderjährigen Kinder unabhängig vom Zivilstand, also auch zugunsten von ledigen Müttern oder Vätern zu gewährleisten. Das neue, seit diesem Jahr geltende Recht sagt nicht, wie der Bar- und der Betreuungsunterhalt für die Kinder berechnet werden sollen. Seither schreiben sich die Gelehrten die Finger wund, und es herrscht ein Wildwuchs an Berechnungsmethoden. Jedes Kreisgericht rechnet nach eigener Methode. Das Kantonsgericht hat zwar letzthin einen Pilotentscheid gefällt, der aber der gesellschaftlichen Entwicklung zuwiderläuft und in Fachkreisen Kopfschütteln ausgelöst hat; es ist fraglich, ob das Bundesgericht gleich entscheiden würde. Anwältinnen und Anwälte wissen heute daher kaum, wie das Resultat, d.h. das Urteil lauten könnte. Wie soll man da seine Klienten beraten? Es wundert nicht, wenn ein erfahrener Anwalt letzthin meinte, das Prozessieren in Scheidungssachen stelle für sich allein schon einen Kunstfehler dar…
Alternative Streitbeilegungsmethoden
1. Mediation
Wer klar denkt bzw. in einem Streit überhaupt in der Lage ist, klar zu denken, wird sich nicht auf ein Gerichtsverfahren einlassen, sondern den Konflikt im Rahmen einer sogenannt alternativen Streitbeilegung zu lösen versuchen. Die Mediation stellt einen möglichen (schwierigen) Weg zur aussergerichtlichen Streitbeilegung dar. Bei allen unbestreitbaren Vorteilen sind die Nachteile gewichtig: Die Mediation lässt sich oft nur sehr schwierig durchführen, weil der Beziehungskonflikt (noch) überwiegt und/oder ein erhebliches Ungleichgewicht in finanzieller Hinsicht (eigenes Geschäft, Verwaltung des Vermögens, Liegenschaften etc.) zwischen den Parteien, seien es Gesellschafter oder Ehegatten, besteht. Die Mediatoren dürfen weder beraten noch können sie Entscheidungshilfen anbieten. Sie leiten das Verfahren, aber inhaltlich sind die Parteien auf sich selber gestellt. Ihnen fehlt so oft die individuelle (anwaltliche) Unterstützung, der Austausch mit einer vertrauten Person.
2. Collaborative Law and Practice (CLP)
CLP vereinigt viele Vorteile verschiedener Konfliktlösungsmodelle. Es steht bezüglich Offenheit des Verhandelns der Mediation am nächsten, bietet den einzelnen Parteien aber auch eine individuelle Betreuung und fachliche Beratung durch ihren Anwalt oder ihre Anwältin. Je nach Situation werden neben den Anwälten (Collaborative Lawyers) weitere Fachpersonen (Finanzexpertinnen, Steuerfachleute, Coaches für Paare, Familien, Kinder usw.) beigezogen, die denselben Grundsätzen wie die CLP-Anwälte verpflichtet sind.
Was ist Collaborative Law and Practice?
In und angrenzend an die Stadt St. Gallen gibt es mittlerweile zwölf CLP-Anwältinnen und –Anwälte. Sie sind zwar weiterhin täglich damit beschäftigt, die Interessen ihrer Klienten in strittigen Verhandlungen und vor Gericht zu vertreten, ziehen es aufgrund der damit verbundenen negativen Erfahrungen aber vor, Konflikte im CLP-Verfahren zu lösen. Sie müssen dabei vollständig umdenken und nehmen einen Paradigmenwechsel vor. Sie verhandeln – anders als oft in „normalen“ Verhandlungen – ohne taktische Finten, ohne Ausnützen mangelnder Kenntnisse der Gegenpartei und ohne Drohung mit einem Verhandlungsabbruch oder gar mit dem Gang ans Gericht. Auf einseitige Schritte, um die andere Partei vor Tatsachen zu stellen, wird verzichtet. Beschlüsse werden an Besprechungen mit allen Beteiligten gefasst, das Wohl der Nachscheidungsfamilie oder jenes der Partner bei Auflösung einer Gesellschaft steht mit im Fokus. Die Anwälte spielen nicht Macht gegen Recht aus. Sie unterstützen zwar ihre Mandanten darin, ihre Interessen optimal einzubringen. Sie werden sie aber auch ermutigen, die Interessen der Mitgesellschafter, der Vertragspartner oder der Ehegatten und der Kinder zu berücksichtigen. Nicht das Maximum für einen, sondern das Optimum für alle ist das Ziel. Die Rolle der Anwälte unterliegt dabei einem grundsätzlichen Wandel: Sie haben einen Doppelauftrag, indem sie sich einerseits für die Interessen seiner Mandanten umfassend einsetzen, gleichzeitig aber auch die Verantwortung für ein konstruktives Verfahren in völliger Offenheit tragen. Selbstverständlich ist dies nur möglich, wenn auf beiden Seiten nach dem CLP-Modell verfahren wird und die gleichen Grundsätze gelten.
Zurzeit sind in der Region St. Gallen sodann zwei Coaches sowie eine Finanzexpertin, alle ebenfalls mit CLP-Ausbildung, tätig. Gerade zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen bietet sich die Lösung mit einer Finanzexpertin an; unter Umständen erhält nur sie Einsicht in die notwendigen Unterlagen und unterrichtet die Beteiligten über die daraus zu ziehenden Schlüsse. Die CLP-Anwältinnen und -anwälte wie die Coaches und die Finanzexpertin haben sich spezifisch weiterzubilden. Alle treffen sich regelmässig zum Erfahrungsaustausch.
Das Collaborative Law-Verfahren
Es werden verschiedene Schritte durchlaufen mit Verhandlungen zwischen Anwältin und Klient, zwischen den beiden Anwälten allein und unter allen Beteiligten. Das Verfahren ist daher relativ aufwendig. Aufwand und vor allem auch Kosten werden jedoch gegenüber einem Verfahren vor Gericht bei weitem aufgewogen, da Gerichtskosten gespart oder vermindert werden können, keine aufwendigen Rechtsschriften notwendig sind und allfällige Expertisekosten tiefer gehalten werden können. Viel entscheidender ist jedoch, dass Lösungen gefunden werden, die Hand und Fuss haben und hinter denen alle Beteiligten stehen können. Es gibt nur Gewinner und keine Verlierer: Frühere Mitgesellschafter und Geschäftspartner können sich auch künftig in die Augen sehen, die Elternbeziehung ist nicht nachhaltig gestört, und die Kinder sind nicht die Leidtragenden der strittigen Scheidung ihrer Eltern.
Verhandlungsregeln
Im CLP-Verfahren verpflichten sich die Parteien zusammen mit ihren Anwältinnen oder Anwälten in einer Vereinbarung, die Grundregeln dieses Modells einzuhalten (nähere Angaben finden Sie unter www.clp.ch):
- Die Verhandlungen basieren auf Fairness, gegenseitigem Respekt und Treu und Glauben und werden in völliger Offenheit geführt.
- Die Parteien sind bereit, zu Gunsten von gemeinsamen Lösungen die relevanten Tatsachen offenzulegen, gegenüber der anderen Partei auf das Anwaltsgeheimnis zu verzichten und Kompromisse einzugehen.
- Versehen der Gegenseite nutzen die Parteien nicht aus, sondern weisen im Gegenteil darauf hin, damit sie korrigiert werden können.
- Solange verhandelt wird, verändert eine Partei die tatsächlichen Verhältnisse nicht zum Nachteil der anderen und trifft keine nachteiligen Vermögensdispositionen.
- Verletzt der eigene Mandant das Gebot fairen Verhandelns, muss das Mandat niedergelegt werden.
- Ebenfalls niederzulegen ist das Mandat, wenn die aussergerichtlichen Verhandlungen scheitern; selbst das Androhen gerichtlicher Schritte ist verboten.
Fazit
Wer bereit ist, in einem offenen und fairen Verhandlungsklima das Optimum zu suchen und mit den Beteiligten auf eine Lösung hinzuarbeiten, die allen Interessen Rechnung trägt und eine konfliktfreie Zukunft ermöglicht, kommt um eine alternative Streiterledigung nicht herum.
Weitere Informationen finden Sie unter www.clp.ch
Lic. iur. Franciska Hildebrand
Fachanwältin SAV Familienrecht
Mediatorin SAV
Collaborative lawyer clp-Schweiz
Rechtsanwältin und Notarin
Dr. iur. Andreas Wiget
Fachanwalt SAV
Haftpflicht- und Versicherungsrecht
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Rechtsanwalt und Notar